Bernd Lange stellt in Kooperation mit der FES Asien, der ILO und Cecilia Malmström Modellkapitel für Arbeitnehmerrechte in Handelsverträgen vor.

Ein umfassendes und fortschrittliches Arbeitskapitel für Freihandelsabkommen


Das vorliegende Modellkapitel zum Arbeitsrecht ist ein fortschrittlicher und ambitionierter Ansatz, um den Schutz von Arbeitnehmern in zukünftigen EU-Freihandelsabkommen zu sichern und zu verbessern. Es zielt auf die umfassende Sicherung materieller Arbeitsstandards und-rechte und sieht dafür einen eigenen institutionellen und prozessualen Rahmen zur Durchsetzung vor. Das Kapitel betont dabei in besonderem Maß die Beteiligung von Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen, indem diesen Mit-wirkungs- und Überwachungsrechte bei allen arbeitsrechtlich relevanten Aktivitäten der Vertragsparteien im Rahmen des Freihandelsabkommens eingeräumt werden.


Das vorliegende Modellkapitel beruht auf fünf grundlegenden Pfeilern:

1. Einbeziehung und Implementierung aktueller internationaler Standards und Richtlinien zum Arbeitsrecht
Das Modellkapitel integriert in umfassender und ambitionierter Weise die aktuellen in-ternationalen Arbeitsstandards. Die Vertragsparteien verpflichten sich nicht nur, die fundamentalen ILO-Konventionen und ihre Protokolle zu ratifizieren und umzusetzen, son-dern gehen weit darüber hinaus. Insbesondere umfasst das Modellkapitel wichtige, aber bislang häufig unterrepräsentierte Standards zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, existenzsichernden Löhnen und angemessenen Arbeitszeiten. Spezifi-sche Regeln finden sich für besonders sensible Bereiche. Dazu gehören etwa für Arbeits-standards in globalen Wertschöpfungsketten oder spezielle Arten von Arbeit, in denen Arbeitnehmerrechte besonders bedroht werden, wie etwa die Arbeit in der sog. informellen Wirtschaft.


2. Starke und ausgewogene Institutionen für eine effektive Beteiligung von So-zialpartnern und Zivilgesellschaft

Entscheidend für den Erfolg eines Arbeitskapitels in der Praxis ist die umfassende und effektive Einbeziehung von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft. Das vorliegende Modellkapitel sichert deren fortwährende Beteiligung in allen arbeitsrelevanten Aktivitäten der Vertragsparteien im Rahmen des Freihandelsabkommens. Repräsentation und Mitwir-kung werden insbesondere durch die Errichtung von Institutionen gesichert, die mit eigenen Rechten ausgestattet sind, insbesondere die reformierten Domestic Advisory Groups und das Civil Society Forum. Detaillierte Regeln über Zuständigkeiten und Ver-fahren sichern eine effektive und hervorgehobene Rolle von Organisationen und bieten Arbeitnehmern und Arbeitgebern effektive und ausgewogene Beteiligungsmöglichkei-ten.


3. Detaillierte Vorschriften zur Kooperation und zur Förderung von Arbeitsstandards

Das vorliegende Modellkapitel greift den auf Kooperation und Förderung von Arbeits-standards liegenden Fokus aktuell bestehender EU-Freihandelsabkommen auf und ent-wickelt diesen weiter. Es stellt einen auf Arbeitspolitik zugeschnittenen Rahmen für eine fortgesetzte und zielgerichtete Kooperation bereit, die auf eine sukzessive Verbesserung des Schutzes von Arbeitnehmern gerichtet ist. Dieses umfasst fortgesetzte bilaterale Treffen zwischen den Vertragsparteien in Beratung mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft, flankiert von Mechanismen zum Aufbau von Kapazitäten und zur techni-schen Unterstützung, die essenziell für Entwicklungsländer sind. Die Möglichkeit von Eingaben durch Individuen ermöglicht einen unkomplizierten Austausch von Standpunkten mit den Vertragsparteien zur Herbeiführung von unbürokratischen Lösungen. Schließlich besteht eine Pflicht zur wiederkehrenden Überprüfung des Kapitels, die mit einem innovativen Impact Assessment-Verfahren durch einen unabhängigen Berichter-statter nach europäischen und internationalen Standards verbunden ist.


4. Effektive Streitbeilegung zwischen den Vertragsparteien und ein Kollektivbeschwerdeverfahren

Zusätzlich zu Aktivitäten zur Kooperation und Förderung von Arbeitsstandards sieht das Modellkapitel auch rechtsförmige Streitbeilegungsmechanismen vor. Damit ergänzt das Kapitel den hergebrachten, auf Kooperation und Förderung ausgerichteten EU-Ansatz mit sanktionsbewehrten Streitbeilegungsverfahren, die bisher etwa in Arbeitskapiteln in US-Freihandelsabkommen vorkommen. Das Modellkapitel sieht zwei verschiedene Streitbeilegungsverfahren vor: Erstens ein zwischenstaatliches Streitbeilegungsverfahren sowie, zweitens, ein innovatives Kollektivbeschwerdeverfahren, welches Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen eine direkte rechtsförmige Durchsetzungsmöglichkeit der im Kapitel vereinbarten Arbeitsstandards gegen eine Vertragspartei eröffnet.
Das zwischenstaatliche Streitbeilegungsverfahren sieht eine juristische Überprüfung der Einhaltung von im Arbeitskapitel enthaltenen Verpflichtungen vor, die in einem rechtsverbindlichen Bericht eines Expertengremiums mündet. Eine effektive Umsetzung des Berichts wird durch eine konsensual zu vereinbarende Entschädigung oder aber durch eine festgesetzte Geldzahlung gewährleistet. Bei Nichtzahlung steht überdies die Möglichkeit der Aufhebung von Handelsvergünstigungen (sog. „Handelssanktionen“) offen. Im Interesse einer konstruktiven Rechtsdurchsetzung setzt das Kapitel über Handel und Arbeit dabei die Priorität und Anreize auf eine Durchsetzung durch Geldzahlung.
Das neue Kollektivbeschwerdeverfahren ist ein progressiver und ambitionierter Ansatz, damit Sozialpartner und zivilgesellschaftliche Organisationen die im Modellkapitel niedergelegten Arbeitsstandards eigenständig und mit voller Verfahrenskontrolle zur Geltung bringen können. Sie können nach Ausschöpfung aller zumutbaren und erschwing-lichen nationalen Rechtsbehelfe eine rechtliche Überprüfung von Verletzungen des Kapitels durch eine Vertragspartei herbeiführen, die in einen rechtsverbindlichen Bericht ei-nes Expertengremiums mündet. Der Bericht kann den Beschwerdeführern eine gerechte Entschädigung in Geld zusprechen, die durch die Gerichte beider Vertragsparteien un-mittelbar vollsteckt werden kann. Dieses Verfahren gibt den Sozialpartnern ein Mittel an die Hand, um ihre Rechte aktiv auch auf internationaler Ebene umzusetzen.


5. Belastbare und ausgewogene Formulierungen, die bisherige Vertragstexte integrieren und verbessern

Das Modellkapitel zielt darauf ab, belastbare und ausgewogene Formulierungen für zukünftige EU-Freihandelsabkommen bereitzustellen. Zu diesem Zweck orientiert es sich in erster Linie an bestehenden EU-Freihandelsabkommen sowie den diesbezüglich von der Europäischen Kommission veröffentlichten Textvorschlägen. Den Hauptreferenzpunkt stellen der finale CETA-Text sowie die von der Kommission veröffentlichen TTIP-Textvorschläge dar. Daneben wurden auch Formulierungen anderer EU-Handelsabkommen und EU-Rechtsakte herangezogen. An einigen ausgewählten Stellen greift das Modellkapitel auf einzelne Formulierungen aus Handelsabkommen wichtiger EU-Handelspartner zurück, insbesondere auf den unterzeichneten Text des Transpazifischen Partnerschaftsabkommens (TPP). Soweit zu Themen bislang noch keine Formulierung in bestehenden Verträgen oder Vertragsentwürfen bestand, orientiert sich das Modellkapitel eng an international etablierten Vertragswerken, insbesondere Konven-tionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Europarats. Das Modellkapitel profitiert zudem in erheblichem Maße von der juristischen, politikwissenschaftlichen, ökonomischen und soziologischen Erforschung von Arbeitskapiteln früherer Handelsabkommen. Dies betrifft insbesondere von der ILO und vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene Studien. Das Modellkapitel zielt auf die Behebung von in den Studien zutage getretenen Schwachstellen früherer Abkommen unter gleichzeitiger Erhaltung bereits erreichter Fortschritte.