Mitten in der Konfrontation mit Russland droht dem westlichen Bündnis ein interner Streit: Großbritannien stellt offenbar vereinbarte Exportregeln des Brexit-Deals infrage. Eskaliert die Situation nun erneut?

Das Landschloss Chevening House in der englischen Grafschaft Kent ist ein beschaulicher Ort zwischen Wiesen und Wäldern. Doch zum entspannten Flanieren in den barocken Gärten des Anwesens werden die britische Außenministerin Liz Truss und EU-Vizepräsident Maros Šefovi wohl kaum Zeit finden, wenn sie sich am Donnerstag zum Gespräch treffen. Stattdessen ist Krach angesagt.

Der Grund ist ein Bericht der Londoner »Times«, wonach Truss die vereinbarten Kontrollen für britische Exporte nach Irland zur Disposition stellen will . Das würde das sogenannte Nordirland - Protokoll des Brexit-Vertrages brechen, nach dem die Provinz Teil des europäischen Binnenmarktes bleiben soll. Es wäre eine Kampfansage an die EU, die Šefovi entsprechend beantworten müsste. Am Ende könnte ein britisch-europäischer Handelskrieg mit Zöllen und Einfuhrbeschränkungen stehen.

Mitten im Ukraine -Konflikt mit Russland ist der Brexit -Streit zurück – und streut sein zersetzendes Gift ins westliche Bündnis. Noch hoffen die maßgeblichen EU-Politiker, dass Boris Johnson seine Chefdiplomatin zurückpfeift. Doch viel Hoffnung haben sie nicht. Der durch Fehlschläge und Affären angeschlagene Premierminister sei offenbar entschlossen, »der Innenpolitik Vorrang zu geben«, sagt Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament. »Wenn Großbritannien die Regeln bricht, wird die Europäische Union eine entschiedene Antwort geben.« Zölle auf englische Agrarprodukte und schottischen Whiskey möglich seinen EU-kritischen Chefverhandler David Frost durch Außenministerin Truss ersetzt, was auch in Brüssel als Signal größerer Kompromissbereitschaft galt.

Doch schon bei den ersten Gesprächen Anfang dieses Jahres wurde klar, dass sich die Positionen kaum angenähert hatten. Im Gegenteil: Weil Johnson wegen seiner Pannenserie der vergangenen Monate in den eigenen Reihen immer stärker unter Druck geriet, war er mehr denn je auf die Zustimmung der Brexiteers angewiesen. Um an der Macht zu bleiben, musste Johnson seinen Hardlinern Zugeständnisse in der Nordirland-Frage machen. Die Wirtschaft leidet unter den Brexit-Folgen. […]

Eine entsprechende Liste von Gegenmaßnahmen hat Šefovi bereits in der Schublade. Von einem »abgestuften Vorgehen« ist in Brüssel die Rede, das sich am Ausmaß des Londoner Vertragsbruchs orientieren soll. Fällt er tatsächlich so scharf aus, wie es derzeit den Anschein hat, könnte die EU etwa Zölle auf englische Agrarprodukte oder schottischen Whiskey verhängen. Auch von Beschränkungen für britische Transport- und Logistikleistungen ist in der Kommission die Rede. »Es wäre höchst bedauerlich«, sagt EU-Parlamentarier Lange, »wenn das britische Vorgehen in diesen Tagen Zweifel an der Geschlossenheit des westlichen Bündnisses wecken würde.« […]

Dafür spricht auch das Ergebnis der nordirischen Regionalwahlen vergangene Woche: Die probritische DUP, die den Brexiteers folgt, musste schwere Verluste hinnehmen . Die übrigen Parteien dagegen, die am Nordirland-Protokolls festhalten wollten, konnten Gewinne verbuchen. »Offenbar«, sagt ein Brüsseler Diplomat, »unterstützen die nordirischen Wähler eher die Position der EU«.