Zur demokratischen Legitimation der EU-Handelspolitik: Warum demokratische Kontrolle keine Frage der politischen Opportunität sein darf
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um die EU und mannigfaltiger Kritik an Handelsabkommen wie CETA, wurde in den letzten Wochen auch der Vorwurf erhoben, die Verfahren in der Handelspolitik seien im Kern undemokratisch. Meiner Ansicht nach, geht dieser Vorwurf in die falsche Richtung.
Die bestehenden Zuständigkeiten der EU – dazu gehört seit dem Vertrag von Lissabon auch die Handelspolitik (Art. 207), - sind aus guten Gründen der EU übertragen und damit vergemeinschaftet worden. Wir teilen in der EU Regeln, Werte und Normen und bilden gemeinsam den größten Wirtschaftsraum der Welt, den europäischen Binnenmarkt. Dieser hat eine gemeinsame Zollaußengrenze, in ihm gelten dieselben Vorschriften und Waren verkehren zollfrei. Einzelne und eigene Handelsabkommen der EU-Mitgliedstaaten würden der Logik unseres Binnenmarktes widersprechen- ein Wirrwarr aus unterschiedlichen Regeln wäre die Folge und könnte im schlimmsten Szenario den Binnenmarkt zu Fall zu bringen.
Des Weiteren kann ein Staat, zumal ein kleiner, alleine in der globalisierten Welt wenig bewirken. Hier ist Solidarität gefragt, hat die EU mit ihrem großen Binnenmarkt gegenüber einem Drittstaat doch eine bessere Verhandlungsposition als ein einzelner Mitgliedstaat.
Handelspolitik sollte nicht mehr von nationalstaatlichen Einzel- und Sonderinteressen bestimmt sein. Hohe Standards und fortschrittliche Regeln, die aus Handelsabkommen resultieren, sollten allen zu Gute kommen. Darüber hinaus muss das Mitarbeiten in internationalen Organisationen wie der WTO in globalen Zusammenhängen gemeinschaftlich geschehen.
Die parlamentarische Kontrolle und Zuständigkeit für Entscheidungen in EU-Politikbereichen, und damit auch für die gemeinsame Handelspolitik, liegen beim Europäischen Parlament und seinen direkt und demokratisch gewählten 751 Abgeordneten.
Der Ablauf des Verfahrens in der Handelspolitik verläuft wie folgt:
- Die Aufnahme von Handelsverhandlungen wird einstimmig von den Vertretern aller demokratisch gebildeten Regierungen der EU im Ministerrat verabschiedet und vom Europäischen Parlament gebilligt.
- Jede Verhandlung wird vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat eng kontrolliert und beeinflusst.
- Nach Verhandlungsabschluss beginnt der Ratifikationsprozess, welcher seinen Anfang mit einem Vorschlag der EU-Kommission über die Alleinzuständigkeit der EU („EU-only“) oder dem gemischten Charakter eines Abkommens nimmt. Mitunter gibt es Bereiche in einem Handelsabkommen, die eine gemischte Zuständigkeit zwischen EU und Mitgliedstaaten verlangen. Dies ergibt sich aus den europäischen Verträgen und ist Grundlage für den Weg der Verabschiedung eines Abkommens Dabei handelt es sich nicht um eine willkürliche oder stimmungsabhängige Entscheidung, sondern um eine, die sich aus dem Inhalt eines Handelsvertrages erschließt. So war etwa das Handelsabkommen EU-Südkorea ein gemischtes Abkommen-Ähnliches gilt auch für CETA. Jedoch dominieren die Teile, die in europäische Zuständigkeit fallen eindeutig.
- Der Vorschlag über die Alleinzuständigkeit der EU oder dem gemischten Charakter eines Abkommens wird an den Ministerrat übermittelt, der die Entscheidung treffen muss, ob er den Vorschlag der Kommission ohne Änderungen annimmt oder ihn abändern möchte. Für eine Änderung bedarf es Einstimmigkeit. Die Entscheidung, ob ein Abkommen in alleiniger Zuständigkeit der EU liegt oder ob es sich um ein gemischtes Abkommen handelt, liegt also bei den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Diese legen mit ihrer Entscheidung ebenfalls fest, welche Teile eines Abkommen in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.
- Daraufhin muss der Ministerrat die Unterschrift unter ein Abkommen beschließen. Dies geschieht in der Regel einstimmig und erfolgte bisher immer auf einvernehmlichen Wege.
- Nach der Unterschrift wird ein Abkommen dem Europäischen Parlament übermittelt. Der zuständige INTA-Ausschuss hält Anhörungen ab, debattiert und fertigt einen Bericht an. Danach muss stets das Plenum des EP über das Abkommen abstimmen und kann dieses annehmen oder ablehnen. Erst nach dem Votum des EP ist der Ratifikationsprozess auf EU-Ebene abgeschlossen. Demnach führt nach der Aushandlung eines Abkommens – egal ob „EU- only“ oder gemischt - kein Weg am demokratisch gewählten Europäischen Parlament vorbei! Das Europäische Parlament kann seiner Aufgabe als demokratischem Gewissen der EU-Handelspolitik nicht beraubt werden - die direkt gewählten Vertreter der EU-Bürgerinnen und Bürgerentscheiden über die Zukunft jeden Handelsabkommens.
- Falls ein Abkommen in die Alleinzuständigkeit der EU fällt, entscheidet das für diese Ebene zuständige Parlament: das Europäische Parlament. Dieses Recht der Entscheidung, für das wir Europäerinnen und Europäer gemeinsam gestritten haben, nimmt das EP sehr gewissenhaft wahr. Schlechte Abkommen haben keine Chance auf Zustimmung. Dies zeigt z.B. die Ablehnung des ACTA-Abkommens (geplantes Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums im Internet mit entscheidenden Webfehlern). Dieses hat das EP gegen den ausdrücklichen Willen der EU-Kommission, allen EU-Mitgliedstaaten und 13 Partnern weltweit (inkl. den USA) abgelehnt. Handelsabkommen kann die EU-Kommission in keinem Fall einfach „durchwinken“, wie teilweise behauptet wird. Denn: Bei „EU-only“ Abkommen kann ein Abkommen erst nach Ratifizierung durch das Europäische Parlament und einem entsprechenden abschließenden Ministerratsbeschluss in Kraft treten.
- Im Falle eines gemischten Abkommens wird der Handelsvertrag, mit Ausnahme der Teile, die rein nationalstaatliche Kompetenzen betreffen, nach der Entscheidung durch das Europäische Parlament zunächst nur vorläufig angewendet. Bei einem gemischten Abkommen können vom Ministerrat explizit Bereiche, die allein nationalstaatliche Kompetenzen berühren, von der vorläufigen Anwendung ausgenommen werden. Beim EU-Südkorea Abkommen waren dies strafrechtliche Sanktionen im Bereich des Schutzes geistigen Eigentums sowie Fragen der kulturellen Kooperation. Die Bereiche, die in nationalstaatlicher Kompetenz liegen und von der vorläufigen Anwendung ausgenommen sind, werden erst nach dem erfolgreichen Ratifizierungsverfahren in allen 28 Mitgliedstaaten angewandt und treten dann in Kraft. Bei CETA wird diesbezüglich z. Z. die Prüfung durchgeführt. Ein gemischtes Abkommen muss nach der Ratifizierung durch das EP von den 28 Mitgliedstaaten- überwiegend von den nationalen Parlamenten, in einigen Mitgliedstaaten auch durch die föderalen Parlamente (in Belgien 5 inkl. dem Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft)- ratifiziert werden (insgesamt ca. 38 Parlamente). Im Fall des EU-Südkorea Abkommens hat das Verfahren nach der Ratifizierung durch das Europäische Parlament fünf Jahre gedauert. In Deutschland ist im Grundgesetz klar geregelt, dass bei einem gemischten Handelsabkommen nach Artikel 59 Absatz 2 auch der Bundesrat zu beteiligen und nach Artikel 84 Absatz 1 ebenfalls die Zustimmung des Bundesrates notwendig ist. Erst nach der Ratifizierung eines gemischten Handelsabkommens in allen 28 Mitgliedstaaten tritt das gesamte Abkommen dann endgültig in Kraft.
Demokratie und Prinzipien des Rechts sind nicht beliebig auslegbar
Eine auf der Achtung des gemeinschaftlichen Rechts basierende Gemeinschaft darf nicht zulassen, dass dieses Prinzip zum Spielball singulärer Interessen gemacht wird. Es bestehen gesetzlich geregelte klare Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen. Die Frage der Zuständigkeit darf nicht mit der Frage der demokratischen Legitimität vermischt werden. Eine Entscheidung des Europäischen Parlamentes ist nicht weniger oder mehr demokratisch als die Entscheidung des niedersächsischen Landtages. Der möglicherweise gemischte Charakter eines Handelsabkommens der EU ergibt sich aus dem Inhalt des Vertragstexts.
Seit über zehn Jahren befindet sich Europa nun auf dem falschen Weg der Renationalisierung. Dieses Problem spiegelt sich Vorgehen des Ministerrats wider: Regierungsvertreter fahren nach Brüssel, verschwinden in einer Black Box und treffen dort Entscheidungen mit, die wenig bzw. unzureichend kommuniziert werden. Und zu Hause wird dann über Brüssel geschimpft. Das reicht an demokratischen Handeln nicht aus und verursacht bei der Zivilgesellschaft Unbehagen. Aus den Hauptstädten der Mitgliedstaaten, die sich jetzt als legitime Entscheidungsträger in europäischen Angelegenheiten aufschwingen, sind sonst keine Anstrengungen zu erkennen die EU weiterzuentwickeln und ihre demokratische Legitimierung zu stärken.
Merkwürdig erscheint mir auch, dass der Versuch, die demokratische Legitimität der Entscheidungen des Europäischen Parlaments aufgrund eigener politischer Interessen zu untergraben, besonders von denen befeuert wird, die links im politischen Spektrum zu Hause sind und eigentlich stets mehr Rechte für das Europäische Parlament fordern.
Eine Kritik an einem Handelsabkommen, wie berechtigt und wohl formuliert sie auch sein mag, sollte nicht dazu verleiten, sich die Entscheidungsstrukturen so zu Recht legen zu wollen, dass die eigene Position mehr Aussicht auf Durchsetzung hat. Diese rein taktische Absicht zeigt sich jedoch leider überdeutlich bei einigen CETA-Kritikern. Sie nutzen die Forderung nach mehr Demokratie incl. der Ablehnung einer vorläufigen Anwendung als Scheinargument in der Hoffnung ein Nein zum Abkommens eher durch den Deutschen Bundesrat oder das Wallonische Parlament statt auf europäischer Ebene erreichen zu können. Demokratie und Prinzipien des Rechts sind jedoch weder beliebig auslegbar, noch dürfen sie zum Gegenstand der politischen Opportunität gemacht werden.
Wenn man der Ansicht ist, ein Handelsabkommen oder ein internationales Abkommen sei nicht akzeptabel, sollte man entsprechend Mehrheiten auf der europäischen Ebene für diese Haltung gewinnen - bei den Bürgerinnen und Bürgern in der EU und in den Mitgliedstaaten, im Europäischen Parlament oder im Ministerrat. Wenn man meint, die EU sollte keine Zuständigkeit für Handelspolitik haben, dann sollte man offen für die Änderung der vertraglichen EU-Grundlangen eintreten.
Der Versuch jedoch, mit einer politischen Kampagne die demokratische Legitimität der EU aufgrund taktischer Überlegungen zu beschädigen, muss von allen Europäerinnen und Europäern nachdrücklich zurückgewiesen werden. Dieser Ansatz bestärkt populistische Vorurteile gegenüber der EU und dient nur denen, die das Europäische Projekt beerdigen wollen. Was wir stattdessen brauchen, ist eine ehrliche Debatte über die Vor- und Nachteile europäischer Politik und vergemeinschafteter Politkbereiche - mit all den Konsequenzen, die diese haben. Entscheidungsprozesse müssen transparent gehalten und transparent erklärt werden.
Bernd Lange, Juli 2016