IP Ausgabe 4/2021: Unsicherer Kantonist: Einem EU-Indien-Abkommen steht einiges entgegen
Ein Kommentar von Bernd Lange und Tim Peter zu den Beziehungen der EU zu Indien.
IP Ausgabe 4/2021: Unsicherer Kantonist: Einem EU-Indien-Abkommen steht einiges entgegen
Die Beziehungen zwischen der EU und Indien waren in den vergangenen Jahren nicht unbedingt von einer überbordenden Dynamik geprägt. Regelmäßige Konsultationen und Gipfel konnten nicht über das Fehlen einer konkreten, gemeinsamen Vision über die Zukunft der Partnerschaft hinwegtäuschen.
In der Handelspolitik zeigte sich dieses Dilemma nach dem Einfrieren der Verhandlungen zu eiem Handelsabkommen im Jahr 2013 mit einigen gescheiterten Versuchen, diesen neues Leben einzuhauchen. Auch die zentrale Rolle, die Indien in den Plänen zur Ausgestaltung einer europäischen Indo-Pazifik-Strategie einnehmen könnte, änderten nichts daran, dass es an greifbaren Projekten mangelte.
Umso erstaunlicher ist für viele Beobachter, dass sich die portugiesische Regierung eine Vertiefung der Beziehungen als eine Priorität ihrer Ratspräsidentschaft auf die Fahnen schrieb. In Brüsseler Kreisen waren die Erwartungen an diesen Schwerpunkt der Präsidentschaft gedämpft.
Dann kam jedoch der 8. Mai 2021, der Tag des EU-Indien-Gipfels. Aufgrund der Corona-Lage fand dieser nur virtuell statt, dies schmälerte jedoch nicht die Signalwirkung, die von diesem Treffen ausging. Gerade in Sachen Handelspolitik waren die Ergebnisse bemerkenswert, denn in ihrem gemeinsamen Kommuniqué ließen die Staats- und Regierungschefs der EU und Indiens gleich mehrere Paukenschläge verlauten. Sie beschlossen: die Wiederaufnahme der Verhandlungen für ein umfassendes Handelsabkommen; die Aufnahme von Verhandlungen zu einem Investitionsschutzabkommen und einem Abkommen zum Schutz geografischer Herkunftsbezeichnungen; die Schaffung von Arbeitsgruppen zu regulatorischer Kooperation und resilienten Lieferketten.
Darüber hinaus verständigte man sich auf eine vertiefte Zusammenarbeit in internationalen Foren wie der Welthandelsorganisation und den G20. Dieses ambitionierte Programm schlug in Brüssel ein wie eine Bombe. Sollte es endlich gelingen, in großen Schritten zu einem Verhandlungsergebnis zu kommen? Hatte man nur auf diesen einen entscheidenden politischen Moment gewartet, damit beide Seiten endlich das volle Potenzial der Partnerschaft ausschöpfen können? Ganz so einfach werden sich die kommenden Schritte unserer Meinung nach aber nicht gestalten, weder aus demokratie- noch aus handelspolitischer Sicht.
Indien wird gerne als Gegenpol zu China betrachtet, als natürlicher
demokratischer Verbündeter in einer immer stärker autoritär geprägten
Region. Ein näherer Blick auf die innenpolitischen Verhältnisse lässt
jedoch schnell Zweifel an einer solchen Sicht aufkommen. Seit Jahren
entwickelt sich Indien weg von den westlichen und vor allem
gesamteuropäischen Werten einer Nation, die in Vielfalt geeint ist. Die
wachsende Einschränkung regierungskritischer Medien und Organisationen
spiegelt sich in einer steten Verschlechterung von demokratierelevanten
Indizes wider.
Der wachsende Einfluss der Regierung auf vormals unabhängige
Institutionen und Politikbereiche, für die eigentlich die subföderale
Ebene zuständig ist, sind weitere Symptome dieser Entwicklung. Die
Bestrebungen, Indien in eine Nation der Hindus umzuwandeln, dürften
weitere Einschränkungen der Rechte religiöser Minderheiten mit sich
bringen.
Mit diesen Entwicklungen geht eine wirtschafts- und damit verbundene
handelspolitische Strategie einher, deren Ziele mehr Autonomie, ein
höherer Grad an inländischer Produktion und eine Verringerung von
Importen sind. Das Vorzeigeprogramm der Modi-Regierung dafür ist „Make
in India“ und deckt von Automobilen über IT und Chemie bis hin zu
Textilien 25 Sektoren ab. Erste Erfolge sind eine Verbesserung der
Einstufung im Geschäftsklima-Index der Weltbank. Probleme bei der
globalen wirtschaftlichen Integration, bei der Kooperation und im Handel
sind da allerdings vorprogrammiert.
Die Entscheidung der indischen Regierung, sich in der finalen Phase der
Verhandlungen zur Regionalen umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (RCEP)
zwischen den zehn ASEAN-Mitgliedstaaten und fünf weiteren Ländern in
der Region aus den Gesprächen zurückzuziehen, ist ein Beispiel für den
Zwiespalt, in dem sich die indische Handelspolitik befindet. Die Frage,
ob man bereit ist, regionale Integration mit einer größeren Marktöffnung
auch für chinesische Unternehmen zu bezahlen, beantwortete die
Regierung klar mit Nein – eine Antwort, die weit über die Region hinaus
für Schlagzeilen gesorgt hat.
Auch europäische Firmen sehen sich mit einer Vielzahl von
Marktzugangsbeschränkungen und einem strikten regulativen Regime in
Indien konfrontiert. Handelshemmnisse reichen von regulatorischen Fragen
wie verpflichtenden lokalen Tests und Zertifizierungen über
Diskriminierungen durch legislative oder verwaltungstechnische Hürden
bis hin zu Klassikern wie hohen Zollsätzen. Diese
Marktzugangsbeschränkungen und die nicht gerade konstruktive Haltung der
Inder in Verhandlungen unter dem Dach der WTO haben in den vergangenen
Jahren die Diskussionen über Handelsfragen in Brüssel dominiert. Weiter
verwunderlich ist das nicht, denn in vielen Sektoren, in denen die EU
offensive Interessen vertritt, stehen europäische Unternehmen in
direkter Konkurrenz zu indischen, die mit „Make in India“ gefördert
werden sollen.
Wie passt dieses Bild zu den Ankündigungen des Gipfels? Es gibt
offensichtlich einen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, der
durch die jüngsten Ereignisse weiter gewachsen ist. Diesen muss man
offensiv angehen, sonst laufen beide Seiten Gefahr, sich wieder in
schönen Worten zu verlieren, aber inhaltlich kein Stück
zusammenzurücken.
Wir müssen eine ehrliche Diskussion mit unseren indischen Partnern über
die Inhalte eines umfassenden Abkommens führen. Indien hat Interessen
und Prioritäten, die es in die Gespräche mitbringt: einen verbesserten
Marktzugang, Patentschutz vor allem im Pharmabereich sowie
Dienstleistungen und den grenzüberschreitenden Verkehr natürlicher
Personen. Aus europäischer Sicht gibt es unverhandelbare
Mindestanforderungen an Handels- und Investitionsabkommen, etwa ein
umfangreiches Nachhaltigkeitskapitel und Investitionsschutzregeln, die
auf dem System des Investitionsgerichtshofs fußen – beides Neuland für
Indien.
Zu Europas Interessen zählen auch Regeln, mit deren Hilfe sich
technische Handelshemmnisse beseitigen und der Marktzugang für Waren und
Dienstleistungen verbessern lassen. Dass sich der Versuch lohnt, diese
schwierigen Gespräche zu führen, steht außer Frage. Außer Frage steht
auch, dass die Europäische Union mit ihrem wertebasierten und
umfassenden handelspolitischen Ansatz in der Lage ist, komplexe Abkommen
zu verhandeln und abzuschließen.
Es liegt nun in der Hand der indischen Verhandlungsführer, nachzuweisen,
dass „Make in India“ und ein umfassendes EU-Indien-Abkommen parallel
existieren können. Denn die Frage, ob ein Abkommen mit den
innenpolitischen Zielen der Modi-Regierung vereinbar ist, wurde nicht
durch die Gipfelerklärung geklärt – sie wird vielmehr in den kommenden
Monaten beantwortet werden.