Positionspapier: Handelspolitik in Zeiten der Corona-Pandemie - zwischen Neustart und Systemwechsel
Die Corona-Pandemie prägt unsere Wirklichkeit wie kein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte. Es ist überfällig, über weitere notwendige Schritte in der Handelspolitik nachzudenken, um globale Prozesse so zu gestalten, dass sie stabiler, nachhaltiger und lebenswerter werden.
Sie finden Bernd Langes Positionspapier zur Handelspolitik nach der Corona-Pandemie im Downloadbereich. Unten finden Sie zudem eine Kurzversion des Papiers.
Die Corona-Pandemie wird überall tiefe Spuren hinterlassen – aber besonders groß werden die Verwerfungen im Handelsbereich sein. Laut Welthandelsorganisation WTO könnte der globale Warenhandel in diesem Jahr je nach Szenario um bis zu 32% einbrechen. Und selbst wenn er in danach sukzessive wieder anzieht: Corona muss und wird auch für die Handelspolitik eine Zäsur darstellen und sollte eine Neuorientierung einleiten. Warum? Weil uns im Schnelldurchgang und mit unaufhaltbarer Wucht nicht nur die Fragilität und Krisenanfälligkeit der globalen Wirtschaft, sondern auch die Grenzen und Missstände der derzeitigen Form der Globalisierung aufgezeigt wurden.
Die Pandemie verstärkt Entwicklungen im globalen Handel, die schon seit einiger Zeit immanent sind: Die klar nach innen gerichtete Strategie des „America First“ in den USA und die daraus resultierenden Handelsstreitigkeiten mit dem geopolitischen Rivalen China, aber auch mit der EU haben nicht nur zu einer Verunsicherung geführt, sondern Protektionismus und Renationalisierung weiter Tür und Tor geöffnet. Genau dieser nationale Lösungsansatz war am Anfang der Coronakrise – leider auch innerhalb der EU – das Maß der Dinge: Vielerorts wurde schnell nationalstaatlich gehandelt, ohne zu prüfen, ob nicht multilaterale Maßnahmen der bessere Weg gewesen wären. Das Ergebnis: Die Einführung von Exportverboten von Schutzkleidung und Vorprodukten einzelner Mitgliedstaaten hat die Produktion dringend benötigter Produkte in der EU teilweise zum Erliegen gebracht und einzelne EU-Partnerländer ohne eigene Produktion oder Ressourcen von den so wichtigen Produkten abgeschnitten.
Die Verletzlichkeit globaler und vernetzter Wertschöpfungsketten unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen sowie die Abhängigkeiten werden wohl nirgends sichtbarer als bei der Knappheit medizinischer Grundausrüstung wie Schutzmasken während einer Pandemie. Der Zusammenbruch von Lieferketten ist aber auch eine Folge einer allein auf Kostenreduzierung und Effizienz getrimmten Globalisierung. Kurzum: Wir brauchen ein Umdenken. Ein Einfach-weiter-so-wie-bisher kann es nicht geben.
Multilaterales System wichtig
Was dabei aber jedem klar sein sollte: Wir leben in einem globalen Dorf. Unilaterale Maßnahmen und Alleingänge schaden am Ende jedem. Die nationalstaatlichen, egoistischen Reflexe sind der falsche Weg und führen letztendlich in eine Sackgasse. In unserer vernetzten Welt können wir uns eine völlige Abschottung nicht mehr leisten. Die Vorstellung, man könnte jenseits der Globalisierung einen geschützten Raum aufbauen und die Produktion nach Europa oder gar Deutschland verlagern, wie es im vorletzten Jahrhundert war, ist ein fataler Irrglaube. Zumal ein völliges Abkoppeln von Wertschöpfungsketten oder ein „Re-Shoring“ nicht nur unmittelbare Konsequenzen für Entwicklungsländer hat, sondern jedem klar sein muss, dass dies für die Produzenten und Konsumenten deutliche Kostensteigerungen mit sich bringen wird.
Deswegen müssen wir globale Prozesse so gestalten, dass sie stabiler, fairer und nachhaltiger werden. Die zukünftige Handelspolitik sollte deshalb auf vier Säulen aufbauen. Erstens: Am multilateralen System führt auch zukünftig kein Weg vorbei. Die Regeln der WTO sind zu für alle zu respektieren, gehören aber angepasst an die Erfordernisse der Zeit. Zweitens: Handelspolitische Maßnahmen auf einer werteorientierten Basis haben immer die Interessen aller Partner im Blick – insbesondere die der weniger entwickelten Länder. Dies ist angesichts vielfältiger nationalstaatlicher, egoistischer Reflexe und brutaler ökonomischer Machtstrukturen besonders wichtig.
EU-Lieferkettengesetz nötig
Drittens: Auch wenn in Zeiten von Corona weniger CO2 ausgestoßen wird, ist die Klima-Krise nicht vom Tisch. Das Greening der Handelspolitik muss deshalb auf der Agenda ganz oben stehen. Und schließlich viertens: Bei allen handelspolitischen Maßnahmen muss auch klar sein, wer letztendlich davon profitiert, dass sie im allgemeinen Interesse sind und nicht nur einigen wenigen Unternehmen dienen. Nur so ist eine öffentliche Akzeptanz des weiterhin offenen Handels möglich.
Wie könnten konkrete Maßnahmen aussehen? Beim Wiederaufbau widerstandsfähigerer Lieferketten sollten Unternehmen beispielsweise sicherstellen, dass in der gesamten Kette Arbeitnehmerrechte gewährleistet werden, es Bestellstabilität gibt, die eine ordnungsgemäße Planung ermöglicht und eine rechtzeitige Zahlung der Aufträge erfolgt. Das Auslagern wirtschaftlicher Risiken um jeden Preis ist mit globaler Verantwortung nicht vereinbar.
Wir brauchen ein EU-weites verbindliches Lieferkettengesetz mit Sicherung der Nachhaltigkeit und der Krisenresistenz des Wertschöpfungsprozesses. Es sollte Unternehmen dazu verpflichten, ihre Menschenrechts- und Umweltrisiken sowie ihre Krisenanfälligkeit sorgfältig zu prüfen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um solche Risiken zu verhindern und zu mindern. Unlautere Handelspraktiken müssen damit auch besser kontrollierbar werden und dürfen kein Wettbewerbsvorteil sein.
Ein Ergebnis der Krise 2008/2009 war das Versprechen, keine protektionistischen Maßnahmen zu ergreifen und das regelbasierte Handelssystem aufrecht zu erhalten. Viel folgte nicht. Angesichts der heutigen Herausforderungen ist ein fairen, regelbasierten, multilateralen Handelssystem aber notwendiger denn je. Die Pandemie wird die Globalisierung nicht beenden. Den globalen Handel, wie wir ihn kannten, wird es nach Corona aber auch nicht mehr geben. Das ist eine große Chance. Wir haben jetzt die Möglichkeit, eine nachhaltigere, sicherere und fairere Handelspolitik auf den Weg zu bringen. Nutzen wir sie!
Bernd Lange ist SPD-Europaabgeordneter und Vorsitzender des Handelsausschusses im Europaparlament.