Warum das Verhandeln lohnt
Ein Beitrag von Bernd Lange in der FAZ vom 6. Oktober 2015
Am Wochenende werden voraussichtlich wieder mehrere tausend Bürger in Berlin gegen die Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten (TTIP) demonstrieren. Der Protest richtet sich dabei nicht gegen ein fertiges Projekt, sondern gegen eines im Aufbau, an dem die Verhandlungsführer der EU und der Vereinigten Staaten laufend drehen und schrauben. Die Sorgen gilt es sehr ernst zu nehmen. Doch die Abmachung ist bei weitem noch nicht fertig. Insofern ist ein abschließendes Urteil über TTIP verfrüht, und diese verfrühten Urteile spalten weite Teile der Gesellschaft
Was für die einen den sicheren Untergang unserer Wertegesellschaft bedeutet, verheißt den anderen den sicheren Ausweg aus jeglichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Beide Sichtweisen reduzieren Sachverhalte auf eine Schwarz-Weiß-Sicht, die der Komplexität der Welt nicht gerecht wird. Wer pauschal nein zu einem Projekt im Aufbau sagt, wird feststellen, dass sich die Welt ohne ihn weiterdreht und von anderen gestaltet wird. Wer aus ebenso ideologischen Gründen grundsätzlich und von vornherein ja und amen zu allem sagt, wird böse Überraschungen mit einem schlechten Abkommen erleben.
Ich sehe in TTIP etwas anderes. Das Vertragswerk kann die Chance bieten, faire Regeln für den Welthandel aufzustellen. Wenn sich die zwei größten Wirtschaftsräume auf gemeinsame hohe Standards und Regeln einigen, hat das Vorbildcharakter für den Rest der Welt. Solch ein Abkommen hat das Potential, den Handel fairer zu gestalten. Globalisierte Wertschöpfungsketten brauchen klare Regeln, um Sozial- und Umweltdumping zu verhindern.
Bewerten kann man ein Abkommen erst, wenn ein ausgehandeltes Werk vorliegt. Dann haben wir direkt gewählten Parlamentarier auch das letzte Wort, denn ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments kann kein EU-Handelsabkommen in Kraft treten. Diese Funktion als demokratisches Gewissen der EU-Handelspolitik nehmen wir Sozialdemokraten sehr ernst. Nur ein wirklich gutes Abkommen wird eine Zustimmung finden, was 2012 bei der Ablehnung des Acta-Abkommens deutlich wurde.
Sich bis dahin zurückzulehnen und auf ein Ergebnis der Verhandlungen zu warten ist keine Option. Um nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, kämpfen wir dafür, dass die Inhalte des Abkommens unseren Forderungen und Leitlinien entsprechen. Deswegen bringen wir uns frühzeitig in die Verhandlungen ein und können so TTIP im Sinne der europäischen Bürger mitgestalten. Das Europäische Parlament hat Anfang Juli mit einer von uns Sozialdemokraten maßgeblich geprägten Resolution zu den TTIP-Verhandlungen einen deutlichen Meilenstein gesetzt und die europäischen Werte klar verankert.
Wir haben eine lange Reihe an offensiven Interessen und roten Linien formuliert. Denn dass die Vereinigten Staaten oder einzelne Wirtschaftsinteressen diese Verhandlungen dominieren, ist schlichtweg falsch. Dann säßen wir nicht mit am Tisch. Die Liste unserer Interessen ist umfangreich. Die europäische Messlatte liegt sehr hoch:
Wir haben uns für starke und verbindliche Arbeitnehmerrechte ausgesprochen. Wettbewerb darf nicht auf dem Rücken von Arbeitnehmern ausgetragen werden. Unverhandelbar sind der unmissverständliche Schutz der Daseinsvorsorge und kulturellen Vielfalt, wie auch unsere Verbraucher- und Umweltstandards geprägt sind vom Vorsorgeprinzip. TTIP muss den Zugang zu öffentlichen Aufträgen in den Vereinigten Staaten ermöglichen, Zölle senken, Zollabfertigungen vereinfachen, gleichwertige Standards auf einem hohen Niveau gegenseitig anerkennen, Dienstleistungen nur mit Positiv-Listen öffnen und den Schutz geographischer Herkunftsbezeichnungen garantieren.
Der umstrittenste Aspekt, die Investor-Staat-Schiedsstellen (ISDS), sorgte auch im Europäischen Parlament für erhitze Gemüter. Hier haben wir nach langen Verhandlungen eine klare Botschaft an die EU-Kommission und den Rest der Welt gesendet: Private, intransparente und undemokratische Schiedsstellen gehören der Vergangenheit an! Dass diese Position Gehör findet, hat sich schon gezeigt. Die EU-Kommission hat Mitte September eine Wende hingelegt und ein neues Investitionsschutzsystem für EU-Handelsabkommen vorgestellt, maßgeblich geprägt von sozialdemokratischen Forderungen: Ein ordentlicher Gerichtshof mit völlig transparentem Verfahren, in denen öffentlich ernannte unabhängige Richter entscheiden, und eine verbindliche Revisionskammer sollen das neue System sein. Staatliche Regulierungen und mögliche Änderungen werden umfassend verankert und können in keinem Fall als Verletzung der Investorenrechte verstanden werden.
Wir Sozialdemokraten wollen Prinzipien und Werte weltweit verankern. Aufgrund des Stillstands in der Welthandelsorganisation ist die Möglichkeit, Fortschritte dort zu erzielen, leider nicht gegeben. Deswegen kann ein bilaterales Abkommen wie TTIP zwischen der EU und einem Drittstaat ein passendes Instrument sein, um Veränderungen auf globaler Ebene zu initiieren. Diese Chance sollte ausgelotet werden.