Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange aus Burgdorf (Region Hannover) ist einer der wichtigsten Experten in Brüssel für den internationalen Handel. Er wirbt im Interview mit dem Politikjournal Rundblick dafür, die bisher beschlossenen Sanktionen gegen Russland noch zu verschärfen.

Rundblick: Es gibt Stimmen, die sagen, die europäische Diplomatie wäre gescheitert. Manche meinen, mit einem stärkeren Zugehen auf die russischen Interessen hätte der Krieg verhindert werden können. Teilen Sie diese Einschätzung?

Lange: Nein, die Politik der EU basiert auf universellen Grundwerten wie Freiheit, Solidarität, Souveränität, Menschenwürde und leistet einen aktiven Beitrag zu Frieden und Sicherheit, gerade bei gegenseitiger Achtung der Interessen der Länder. Denn natürlich muss man in der Diplomatie auch die Brille des anderen aufsetzen, um dessen Interessen zu verstehen. Nur so lassen sich Konflikte lösen oder entschärfen. Die Sicherheitsinteressen Russlands sind berücksichtigt worden, gerade durch Frankreich und Deutschland. Vielleicht wäre manchmal mehr Klarheit und weniger Kakophonie auf der europäischen Seite wünschenswert gewesen. Aber die Aggression beginnend mit der Annexion der Krim und den Kämpfen in der Ostukraine ging eindeutig von Präsident Putin aus. Und die Abläufe der letzten Woche zeigen doch deutlich, dass im Kreml ein Drehbuch entwickelt worden ist, dass überhaupt keine Veränderungen mehr erlaubte.

Rundblick: Wie nehmen Sie als EU-Abgeordneter und Handelsexperte die Rolle der EU in diesem Konflikt wahr? Ist die EU geschlossen genug, agiert sie stark genug?

Lange: Die EU handelt zügig, gemeinsam und geschlossen. Und das ist der zentrale Punkt. Aufgrund der besonderen Struktur der EU und auch aufgrund der Einflussversuche von außen gab es hier Risiken. Europäisches Parlament, Europäische Kommission und der Europäische Rat sind aber hier geeint. Wir hatten am Donnerstag im EP eine Sitzung der Fraktionsvorsitzenden. Alle Fraktionen waren sich einig, dass die russische Regierung für den Krieg verantwortlich ist und dass harte Sanktionen nötig sind. Die bisherigen Maßnahmen gehen in die richtige Richtung. Die finanziellen Möglichkeiten der Kreml-Hierarchie werden ausgetrocknet und die wirtschaftlichen Aktivitäten gerade in strategischen Sektoren eingefroren. Im Europäischen Parlament halten ich und viele Kollegen noch weitergehende Maßnahmen schon jetzt für angemessen, so den Ausschluss aus dem Swift-System.

Rundblick: Kriege sind das Gegenteil von freiem Handel. Befürchten Sie dauerhafte Nachteile und Beeinträchtigungen durch den Angriffskrieg des russischen Präsidenten?

Lange: Russland ist wenig in den globalen Handel und in globale Wertschöpfungsketten integriert. So ist Russland auch erst 2012 der WTO beigetreten. 60 Prozent des russischen Exports in die EU sind Erdöl und Gas. Aufgrund der Instabilitäten, der Bürokratie und des relativ kleinen Binnenmarktes gab es nur begrenzte Investitionen in Russland. Und auch das wirtschaftliche Gewicht Russlands beträgt nur etwa ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts der EU. Insofern werden die direkten Auswirkungen begrenzt bleiben. Allerdings wird es natürlich für einzelne Unternehmen Schwierigkeiten geben. Durch die russische Aggression sind die EU Handelsbeziehungen mit der Ukraine ebenso betroffen. Hier gibt es Verflechtungen die nun auch unterbrochen sind, gerade im Landwirtschaftssektor, wenn auch das Volumen insgesamt nicht so groß ist. Vor allem der Kraftfahrzeugsektor, Maschinen- und Anlagenbauer und die Landmaschinentechnik in Niedersachsen sind betroffen, aber auch darüber hinaus Dienstleister wie die HHLA, die einen Teil das Hafen in Odessa betreibt. Abzuwarten bleibt, ob die russische Regierung Gegenmaßnahmen beschließen wird. Gas und Ölpreise werden weiter steigen. Alles zusammen hat natürlich einen negativen Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung, die ja immer noch unter der Corona Pandemie leidet. Zweifelsohne wird die russische Aggression die Veränderung der globalen Energiehandelsstrukturen beschleunigen. Durch die verschiedenen Anstrengungen zur Klimaneutralität zeichnet sich die Veränderung schon jetzt ab. Grüner Wasserstoff wird Öl und Gas ablösen. Auch die Tendenz, einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren, wird sich verstärken. Diversifizierung und Nearshoring der Lieferketten sind die Konsequenz.

Rundblick: Wie wirkungsvoll können Handelssanktionen mit Blick auf Russland sein? Können Sie ein Mittel sein, den Druck auf Russland so sehr zu steigern, dass Putin den Kriegsakt wieder beendet?

Lange: Russland ist in vielen Sektoren sehr stark von Importen aus der EU und den USA abhängig. Hightechprodukte, Elektronik, Fahrzeuge und Fahrzeugteile, Flugzeuge und deren Ersatzteile, pharmazeutische und chemische Produkte importiert Russland. Insofern werden Exportverbote ihre ökonomische Wirkung zeigen. Inwieweit Präsident Putin sich davon leiten lässt, wird sich zeigen. Ganz entscheidend dabei wird sein, wie die innenpolitische Lage sich entwickelt. Die Handelssanktionen treffen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und deren Interessenslagen. Die Hoffnung ist natürlich, dass dies zu einem stärkeren Widerstand gegen die Kriegspolitik des Präsidenten führt. Für Russland ist die EU der weitaus größte Handelspartner. Etwa 40 Prozent des russischen Handelsvolumen bezieht sich auf die EU, während für die EU der Handelsanteil mit Russland nur fünf Prozent beträgt, wenn auch die Zahlen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einzelne Sektoren unterschiedlich sind. Den Verlust der Beziehungen mit der EU wird Russland nicht so schnell kompensieren können mit anderen Partner, wie etwa China. Russland leidet sicherlich unter harten Wirtschaftssanktionen sehr deutlich.

Rundblick: Die russische Aggression kann zu einer Verschiebung der Bündnisaktivitäten führen. Kann darin auch eine Chance für die EU zu neuen Handelskooperationen liegen – und welche könnten das sein?

Lange: Die russische Aggression hat zweifelsohne zu einer Revitalisierung der bilateralen Tagesordnung geführt. Denn die Stärkung eines regelbasierten Handels ist natürlich im elementaren Interesse der EU, wo 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes am Handel hängen und etwa 36 Millionen Jobs. Ich war diese Woche in Mexiko, um die fast geschlossenen Verhandlungen über die Modernisierung des Handelsabkommens weiterzutreiben. Die Wahrnehmung auch der Partner in Mexiko über die Notwendigkeit unserer Kooperation ist durch die russische Aggression deutlich geschärft worden. Die EU ist kurz vor dem Abschluss eines Abkommens mit Chile. Die Verhandlungen mit Australien und Neuseeland werden in 2022 sicherlich auch erfolgreich beendet werden. Damit wird die EU fast 50 bilaterale und regionale Abkommen mit 80 Ländern haben. Die Kooperation mit den USA über die Plattform eines Handels- und Technologierates wird ebenso gestärkt und findet im Mai mit einem high-level Treffen in Frankreich einen weiteren markanten Eckpunkt.

Rundblick: Der SPD ist wiederholt, auch in Niedersachsen, eine zu große Nähe zu Russland vorgehalten worden. Wie erklären Sie sich diesen Vorwurf – und halten Sie ihn für berechtigt?

Lange: Zum einen ist der Versuch, Frieden durch alle Möglichkeiten zu sichern, der richtige Weg. Dies gilt besonders für das Verhältnis Deutschland - Russland in der historischen Verantwortung. Gegenseitiges Verstehen, Handelsbeziehungen, Kontakte von Menschen stabilisieren Beziehungen. Zum anderen muss man doch differenzieren zwischen den Beziehungen zu Menschen und Unternehmen in Russland und einem autokratischen Präsidenten. Die Partnerschaft von Niedersachsen und Perm seit 1993 dient doch der Kooperationen in der Bildung, im Sport, in der Wissenschaft und Technologie. Damit wird in keiner Weise ein autoritäres Herrschaftssystem legitimiert.

Rundblick: Das stimmt sicher, aber einige Genossen wie Gerhard Schröder haben über Jahre exzellente Beziehungen auch direkt zu Putin gepflegt. Sollten diese Kontakte jetzt für diplomatische Bemühungen genutzt werden?

Lange: Jede Möglichkeit, die völkerrechtswidrigen Aktivitäten von Präsident Putin zu stoppen und die demokratische Opposition gegen seine Aktivitäten zu stärken, sollte genutzt werden.