Während sich die EU hin zu einer strategischen Wirtschaftspolitik und weg von reiner Marktliberalisierung bewegt, werden die gravierenden Unterschiede zwischen den nationalen Wirtschaftstraditionen deutlicher denn je. Das erschwert einen gemeinsamen Ansatz in der Transformation zur Klimaneutralität, der dringend erforderlich wäre.

Gestern hat die Europäische Kommission zwei Gesetzesvorschläge vorgelegt, die darauf abzielen, deutlich mehr Produktionskapazitäten für kritische Rohstoffe und klimafreundliche Produkte wie Solarzellen und Wärmepumpen in Europa aufzubauen.

Beide Vorschläge sind Teil des grünen Industrieplans, dem neuen Ansatz der EU-Kommission für den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft.

Die Details der Vorschläge unterscheiden sich von den Entwürfen, die EURACTIV letzte Woche zugespielt wurden (Net-Zero Industry Act, Critical Raw Materials Act).

So wurden etwa die Vorgaben, die europäische Produkte im öffentlichen Beschaffungswesen oder bei Ausschreibungen für Subventionen bevorzugen sollen, sichtlich abgeschwächt.

Der entsprechende Artikel, im Entwurf noch so forsch, dass Handelsexperten ihn als „gefährlich“ bezeichnet hatten, verweist nun auch explizit auf die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO).

Eines wird dennoch deutlich: Der Green-Deal-Industrieplan stellt eine deutliche Abkehr von der bisherigen Wirtschaftspolitik der EU dar, die sich auf die Öffnung des Zugangs zu den (globalen) Märkten und die Gewährleistung des freien Wettbewerbs konzentriert hatte.

Zum einen könnte der überarbeitete Rahmen für staatliche Beihilfen die Schleusen für massive nationale Subventionen öffnen, welche die EU bisher so weit wie möglich begrenzen wollte.

Außerdem bringt der Industrieplan „eine strategischere Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit“ der europäischen Wirtschaft, welche in der EU in der Vergangenheit nur selten geführt wurde, sagte die Vizepräsidentin der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Esther de Lange, am Mittwoch (15. März).

Mit der Festlegung von Schlüsselsektoren, die für eine klimaneutrale wirtschaftliche Zukunft benötigt werden, gibt die Kommission endgültig ihre Haltung der „Technologieneutralität“ auf, auch wenn sie das wohl nie selbst zugeben wird.

(Wir erinnern uns: Sogar das Verbrenner-Aus wird von der EU-Kommission stoisch als „technologieneutral“ bezeichnet – was sich nun als ziemliches Problem herausstellt).

Hinzu kommt: Indem die EU-Kommission zunehmend auf Umwelt- und Sozialschutzstandards in Handelsabkommen besteht, die tatsächlich etwas vor Ort verändern (und nicht nur Verpflichtungen auf dem Papier sind), gibt sie implizit zu, dass nicht jede Art von Wirtschaftswachstum wünschenswert ist – zum Beispiel dann nicht, wenn damit eine verstärkte Abholzung von Naturwäldern einhergeht.

Aber die Verlagerung hin zu einer strategischeren (oder „vertikalen“) Wirtschafts- und Industriepolitik bringt auch Schwierigkeiten mit sich.

Denn mehr denn je wird deutlich, dass sich die nationalen Traditionen der EU-Länder in der Wirtschaftspolitik deutlich voneinander unterscheiden.

Dies wurde etwa sichtbar, als der (eigentlich liberale) französische Präsident Emmanuel Macron die Messlatte für die laufenden Nachverhandlungen zum Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Mercosur-Block unerreichbar hoch legte, indem er sogenannte „Spiegelklauseln“ forderte.

Gleichzeitig ist das Wirtschaftsministerium des exportorientierten Deutschlands eifrig bemüht, Optimismus und positive Stimmung für das Abkommen zu verbreiten — und das, obwohl es von den ehemaligen TTIP-Gegnern, den Grünen, geführt wird.

Die deutsche Autoindustrie braucht Absatzmärkte, nicht wahr?

Nationale Unterschiede scheinen sogar die ideologischen Differenzen im Europäischen Parlament zu überschatten, die, zumindest theoretisch, die politischen Diskussionen in diesem Haus bestimmen sollten.

So fordern beispielsweise französische Politiker wie die Europaabgeordnete Stéphanie Yon-Courtin (Renaissance/Renew Europe), ganz im Sinne der französischen Regierung, unverblümte „Buy European“-Klauseln für öffentliche Aufträge oder Ausschreibungen.

Der deutsche Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments, Bernd Lange (SPD/S&D) bezeichnete dagegen – ebenfalls ganz im Sinne seiner nationalen Regierung – die Vereinbarkeit der neuen Gesetze mit den Regeln der untoten Welthandelsorganisation (WTO) als rote Linie.

„Wir haben eine sehr diversifizierte Handelsstruktur mit allen möglichen Ländern“, wobei nur 15 Prozent nach China und 15 Prozent in die USA gehen und der Rest über den ganzen Globus verteilt ist, sagte Lange gegenüber EURACTIV.

„Da können wir jetzt nicht sagen: Ihr müsst euch aber immer an die WTO Regeln halten, auch manchmal unter schwierigen Bedingungen – und jetzt fangen wir an, unseren Markt abzuschotten“, fügte er hinzu.

Es scheint also, dass die Mitgliedstaaten – ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen Traditionen folgend – ihre Stimme nicht nur im Rat, sondern auch im Parlament erheben werden.

Die Vorschläge der Kommission werden sich also einer doppelten Herausforderung stellen müssen.